Mehr Fiction für Science!

Von Philipp Thesen | September 2019

Wann erblickte eigentlich das große iPad Pro von Apple das Licht der Welt? Im März 2016? Diese Antwort ist richtig und falsch zugleich. Solche Tablets lagen schon 1968 auf einer Konsole in der Starship-Kantine des Filmklassikers „2001 A Space Odyssey“. In dieser Filmszene verfolgen die zwei Astronauten Frank Poole und Dave Bowman während ihrem Mittagessen auf ihren Tablets eher beiläufig eine TV-Show mit dem Supercomputer HAL 9000, der dem Moderator gerade erzählt, dass er mitnichten darüber traurig sei, dass seine Existenz als künstliche Intelligenz vom Menschen völlig unabhängig sei. Diese Filmszene wurde 2011 sogar von Samsung in einem Gerichtsverfahren vorgeführt, um nachzuweisen, dass nicht Apple, sondern der Regisseur das tablet computing erfunden habe. Für uns Designer zeigt diese Szene nur, dass das Tablet offenbar ganze 15 Jahre zu spät kam. Stanley Kubrick imaginierte diese Innovation ja bereits für das Jahr 2001.

Visionen der Digitalisierung
Wie kann das sein, dass eine technologische Innovation unserer modernen Zeit bereits vor 48 Jahren vorhergesehen wurde? Ist das nur ein einmaliger Zufall, oder hat das System? Haben geniale Science-Fiction-Autoren lediglich die Zukunft präzise vorhergesagt, oder waren ihre Visionen am Ende sogar die Blaupausen für die Ingenieure, die die literarischen Fantasien einfach in neue Technologien übersetzten?

Die berühmte Henne-Ei-Diskussion haben die Science-Fiction Autoren eigentlich für sich entschieden. Wertet man die gesamte Literatur aus, so haben die Schriftsteller diese Diskussion – rein statistisch gesehen – gewonnen. Denn die Zahl der technologischen Innovationen, die heute unseren Alttag erleichtern und bestimmen, sind in großer Zahl in Büchern nachzulesen, die schon vor 30 oder 40 Jahren geschrieben wurden.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist der Autor Philip K. Dick. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1982 etwa 120 Kurzgeschichten und über 40 Romane und gilt als einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren. Seine Geschichten stehen heute sinnbildlich für die Frage nach dem Wesen und der Realität des Menschseins: Was unterscheidet den Menschen von der Maschine?

„Viele Romane und Filme aus vergangener Zeit stehen heute sinnbildlich für die Frage nach dem Wesen und der Realität des Menschseins: Was unterscheidet den Menschen von der Maschine?“

Während er zu Lebzeiten verkannt wurde, gilt Philip K. Dick heute, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod, als wohl größter Visionär des digitalen Zeitalters. Weil Dick an Platzangst litt, verließ er fast nie sein Haus in einer typischen kalifornischen Mittelklasse-Vorstadt. Er recherchierte nicht – damals gab es ja noch nicht mal Internet –, sondern erfand alles selbst. In seiner Fantasie reiste er mit Unterstützung ausgedehnter Drogenexperimente durch unzählige Welten. Filme wie Matrix oder eXistenZ beruhen auf Dicks Ideen. Er prägte fast im Alleingang die technologischen Visionen Hollywoods. Die Liste der Verfilmungen von Dicks Romanen bzw. Kurzgeschichten ist beeindruckend: Blade Runner, Total Recall, The Man in the High Castle, Screamers, Paycheck und Minority Report.

Es ist bereits mehr als 15 Jahre her, seit Steven Spielberg den auf der Kurzgeschichte von Philip K. Dick basierenden Film Minority Report veröffentlichte. Der Film mit Tom Cruise in der Hauptrolle fesselte die Zuschauer damals mit zahlreichen innovativen Technologien wie allgegenwärtige digitale Displays im Großformat, Augen- und Gesichtserkennung und einigen mehr. Viele dieser Konzepte sind heute in unserem Alltag Basis für die Personalisierung von Werbung, Digital-out-of-Home Marketing und Interactive Digital Signage. Digitale Außenwerbung, die mit Handys kommuniziert und Werbebotschaften an bestimmte Situationen anpasst, auf Profile sozialer Netzwerke zugreift sowie Hologramme mit darauf angepassten Lichtstimmungen und entsprechenden Düften kombiniert und dem Kunden passende Angebote unterbreitet, das ist alles in greifbarer Nähe.

Stoff aus Science Fiction Filmen
Heute scheint es, dass die meisten der Technologien, die wir einst in dem Film bewunderten, viele Aspekte unseres heutigen Lebens bestimmen. Die Idee im Film, einen Computer durch Handbewegungen zu steuern, hat nachweislich die Entwickler bei Apple und Microsoft zur Gestiksteuerung von iPhone und iPad und zur Multitouch-Technologie ab Windows 7 inspiriert: Mit einem Fingerzeig werden Fenster hin und her geschoben, Bilder lassen sich vergrößern, indem man die Finger spreizt. Vor allem das beklemmende Projekt Precrime, mit der die Washingtoner Polizei im Film mittels Präkognition Morde verhindert, wird in den Metropolen der Welt immer mehr zur Gegenwart. Zahlreiche Modelle des Predictive Policing analysieren heute mit Hilfe der künstlichen Intelligenz Falldaten, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zu berechnen.

Für einen Designer am meisten beeindruckend ist die Entstehungsgeschichte des Films Minority Report. Am Anfang des Projekts hielt Steven Spielberg mit namhaften Futurologen und MIT-Wissenschaftlern ein dreitägiges Seminar ab, um herauszufinden, wie die Welt im Jahre 2054 aussieht. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich kaum von den Methoden des Design Thinking, mit der Designer die Zukunft beschreiben. Heraus kam damals bei Spielberg eine Liste, wie sich nach der Einschätzung der Experten die Medizin, die Verkehrstechnik, die urbane Architektur, das Design usw. bis 2054 entwicklen wird. Nicht alle Ergebnisse hat Spielberg dann in seinem Film umgesetzt, etwa die Vorhersage, 2054 besäßen wir kluge Toiletten, die analysieren, was wir gegessen haben, um uns dann zu sagen, was wir morgen essen sollten.

„Der Moment, den Designer mit Science-Fiction-Leuten bei aller Unterschiedlichkeit teilen: in einem planvollen Prozess herauszufinden, wie sich Technologien auf das alltägliche Leben der Menschen auswirken könnten.“

Spielberg sagte in einem Interview im Rückblick: „Ich wollte den Film erden, aus ihm mehr Science als Fiction machen.“ Und genau das ist der Moment, den Designer mit Science-Fiction-Leuten bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam teilen: in einem planvollen Prozess herauszufinden, wie sich Technologien auf das alltägliche Leben der Menschen auswirken könnten. Während der Science-Fiction Möglichkeitsräume imaginiert, entwickelt der Designer gemeinsam mit anderen Experten Anwendungsszenarien für neue Technologien. Der Science-Fiction-Autor beschreibt gerne die negativen Auswirkungen der modernen Technik und der künstlichen Intelligenz. Der Designer versucht hingegen, bei der Ausgestaltung der Technologien die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, um die Technologie zu humanisieren. Doch spätestens nach der Lektüre dieses Buches ist klar: Designer sollten künftig mehr Science-Fiction lesen.

Von Philipp Thesen | September 2019