Balance
Von Jan-Erik Baars | November 2020
Gleichgewicht ist ein Zustand, der von Menschen als ein Ideal von besonderer Attraktivität wahrgenommen wird. Ist etwas gleich verteilt, in Balance, dann messen wir diesem einen hohen Wert bei. Gleichwicht der Kräfte, der Märkte, der Formen und Strukturen, der Meinungen oder auch der Werte an sich, ist etwas „schönes“. Nicht ohne Grund trägt die Justitia eine Waage, mit der sie sicherstellen kann, dass die Fakten abgewogen werden können – und zwar im Gleichgewicht, und somit gerecht.
Die Natur scheint in ihrer Gestaltungarbeit ebenso ein Auge auf Balance und Symmetrie zu legen, wir finden Beispiele dafür im Tierreich und in Ökosystemen. Und so ist das Gleichgewicht auch ein Aspekt, den wir Menschen in der Gestaltung unserer Welt berücksichtigen. Wir empfinden – über alle Kulturen hinweg – Dinge für besonders gelungen, wenn sie eine Ausgewogenheit besitzen, wenn sie z.B. symmetrisch oder ausbalanciert sind. Deswegen ist Gleichgewicht nicht nur Symmetrie, sondern vor allem Balance: Ein Yin benötigt ein Yang, Schwarz das Weiß, Tim braucht Struppi und Aktion die Reaktion.
Wenn Dinge aus dem Gleichgewicht geraten, droht in der Regel das Chaos, eine Verschiebung von Gewichten, Werten und Kräften, die dazu führt, dass unsere gestaltete Welt aus den Fugen gerät. Ob im Klima, in der Gesundheit, Gesellschaft oder in den Märkten: sobald eine Seite die Überhand gewinnt, und somit das Gleichgewicht aufhebt, setzt ein Schneeballeffekt ein und alles fällt dieser Seite zu. Das mag für jene, denen es zufällt, verlockend erscheinen, aber wir wissen, dass ein Ungleichgewicht nicht lange gutgeht. Auch Karl Marx erkannte das und forderte ein Geleichgewicht von Kapital und Arbeit, wobei er wohl auch erkannte, dass die Waage des Gleichgewichts immer pendelt. Solange sie aber das Ideal des Gleichgewichts, die Balance, anstrebt, kommt man dem Ideal näher.
Das Gestalten von Welt beinhaltet also, wenn gut gemacht, ein ständiges Streben nach Balance, und nicht ein Festzurren einer einzigen Position. Das ständige Austarieren zwischen den Polen ist dabei eine hohe Kunst, wie im Beispiel der Justitia: nicht eine Seite ist die Richtige, sondern die richtige Balance der Meinungen und Fakten führt zur Lösung des Problems. Denn oft sind die Probleme so komplex, und die Meinungen so weit von einander entfernt, dass eine Balance schier unmöglich scheint. Es war der Deutsche Designer und Forscher Horst Rittel, der diese ‚Wicked Problems‘ einst beschrieb und dabei folgendes feststellte: Diese Art der Probleme erweisen sich als äußerst resistent gegen Lösungsversuche, oft werden diese erst im Lösungsprozess selbst erkannt. Spätestens hier bemerken wir, dass die Corona-Krise ein solches verflixtes Problem darstellt. Wir können sie nur lösen, indem wir sie genau erforschen und uns damit auseinandersetzen, indem wir Fakten abwägen und austarieren. Tun wir das?
Auch in Organisationen ist die Balance Erfolgsentscheidend. Unternehmen suchen ständig nach dem richtigen Verhältnis zwischen Kosten und Einnahmen, zwischen dem, was das Unternehmen benötigt und dem, was die Kunden benötigen. Denn, fällt einer Seite zu viel zu, dann überlebt das System ‚Unternehmen‘ nicht lange. Dieses Austarieren gilt vor allem für die Führung von Unternehmen und Organisationen: Auch im Leadership gilt es ständig abzuwägen, welche Meinungen in Entscheidungen und Zielsetzungen einfließen. Das Ziel des Leaderships ist es, eine ideale Balance zu finden zwischen dem, was das Unternehmen sichert und dem, was es weiterentwickelt. Also eine Balance zwischen Verwalten und Gestalten!
Das Ideal des Gleichgewichts gilt auch hier. Während auf der einen Seite die Verwaltungskompetenz sicherstellt, dass Ressourcen und Mittel dann zur Hand sind, wenn man sie benötigt, ermöglicht auf der anderen Seite die Gestaltungskompetenz, dass jene Angebote entstehen, die von Kunden gewollt und entsprechend erworben werden. Hat im Leadership die Verwaltung die Überhand, droht Effektivitätsverlust und der Kundenabgang. Hat die Gestaltung überhand, droht Effizienzverlust und ein Kostenabgang. In beiden Fällen ist das Ergebnis gleich, die Organisation ist auf Dauer nicht überlebensfähig.
Den meisten Führungskräften fällt das Austarieren außerordentlich schwer. Nicht weil sie nicht wüssten, was den Erfolg ausmacht, sondern vielmehr, weil sie nicht die nötige Kompetenz haben – die meisten Führungskräfte können nicht gestalten! Sie richten ihre Führungsarbeit auf das Verwalten, weil sie das nun mal am besten können. Sie haben nicht ohne Grund einen MBA abgeschlossen und sind nun Meister der Administration. Bekräftigt werden sie darin von der Organisation selbst, die es vorzieht, verwaltet zu werden. Auch die meisten Mitarbeitenden ziehen die Verwaltung vor, sichert es ihnen doch das Einkommen und reduziert das Risiko, mit Gestaltung einen Fehler zu machen. Wer möchte schon diszipliniert werden, nur weil der Gestaltungsdrang neue Realitäten erzeugen kann, die sich als Fehler erweisen könnten. Dann doch lieber das tun, was die Chefin sagt und weitermachen. Weitermachen mit dem, was alle nicht weiterbringt.
Erfolgreiche und resiliente Organisationen und Leader erkennen das und handeln danach. Sie gehen bewusst das Risiko ein, dass Gestaltung Fehler aufwirft aber dafür neues Potenzial entfacht. Gleichzeitig sichern sie die Organisation so ab, dass genügend Ressourcen vorhanden sind und dass man das neue Potenzial auch umsetzen kann. Sie handeln nach dem Ideal der Balance und tarieren scheinbar widersprüchliche Meinungen und Fakten so aus, bis sie für die Lösung ihrer verflixten Probleme eine gute Form gefunden haben. So sichern sie nicht nur die Gegenwart ab, so gestalten sie gleichermaßen ihre und unsere Zukunft!
Von Jan-Erik Baars | November 2020